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Bildung im Netz: Analyse und bildungstheoretische Interpretation der neuen kollaborativen Praktiken in offenen Online-Communities

Koenig, Christoph Jan (2011)
Bildung im Netz: Analyse und bildungstheoretische Interpretation der neuen kollaborativen Praktiken in offenen Online-Communities.
Technische Universität Darmstadt
Dissertation, Erstveröffentlichung

Kurzbeschreibung (Abstract)

Grundannahme meiner Arbeit ist, dass im Netz neue Phänomene entstanden sind, die fundamentale Prämissen traditioneller Bildungstheorie in Frage stellen. Zu diesen Phänomenen gehören das Web 2.0, Freie und Open Source Software Projekte, Open Content Projekte, Peer-to-Peer Netzwerke, Wikis, die Blogosphäre und viele andere Online-Communities. Zunächst (1) analysiere ich diese Phänomene eingehend, um anschließend (2) aus der Perspektive zweier kontrastierender Bildungstheorien zu untersuchen, wie Bildung im Netz konzipiert werden kann, so dass sie den Eigenheiten dieser Phänomene gerecht wird. Daraus entwickle ich abschließend (3) eine Konzeption von Bildung durch kollaborative Transformationsprozesse sozio-technischer Arrangements und beschreibe drei idealtypische Formen solcher Bildungsprozesse. (1) In einem ersten Schritt führe ich eine qualitative Metaanalyse von empirischen Untersuchungen der neuen Praktiken im Netz durch, um daraus Modelle für deren typische Eigenschaften zu entwickeln. Diese Charakteristika sind: - eine Allmende-basierte Ökonomie, in der Kultur- und Informationsgüter durch Peer-Produktion hergestellt und distribuiert werden, - eine lose und redundante Vernetzung der Akteure zu offenen Online-Communities, die an den Rändern ausfransen, - Lernprozesse, die informell in der produktiven Praxis situiert sind und in denen Akteure durch die Partizipation an der Praxis in eine Community hineinwachsen, - Kommunikations- und Produktionsprozesse, die durch Schnittstellen und Protokolle modularisiert sind, so dass diese Prozesse sehr gut skalieren und sich Akteure aus den unterschiedlichsten Motiven und mit verschieden starkem Engagement in die Communities einbringen können, - Formen der Konfliktlösung, die nicht auf Konsens und Synthese zielen, sondern auf die Anerkennung von Differenzen, und die in Diskursen stattfinden, die zum Teil anarchisch sind und zum Teil durch Technologie bestimmt werden, - Das sogenannte "Recht zu forken" (sich von einer Community zu trennen und ein Derivat von deren Arbeit weiterentwickeln zu dürfen), das durch Freie und Open Source Software Lizenzen und durch die Creative Commons Lizenzen garantiert wird. (2a) Aus der Perspektive der Kritischen Bildungstheorie lassen sich viele dieser Eigenschaften als qualitative Umbrüche in der Produktionsform des globalen Kapitalismus interpretieren. Aus dieser Perspektive besteht Bildung im mündigen Umgang mit diesen Umbrüchen (Koneffke, Sesink); besonders damit, dass sich diese Umbrüche gleichzeitig in die kapitalistische Produktionsform integrieren und diese unterlaufen. Allerdings legt diese Perspektive einen Schwerpunkt auf das Subjekt. Dieser Fokus ist gegenüber den vernetzten Akteuren, die sich im Netz einbringen, nicht angemessen. Im Netz realisiert sich Mündigkeit nicht im Subjekt oder durch individuelle Prozesse, sondern durch kollektive Prozesse von vernetzten Akteuren. Es stellt sich aber die Frage, wie man solch eine kollektive Mündigkeit konzipieren kann. (2b) Aus einer postmodernen Perspektive -- genauer auf der Basis einer Bildungstheorie, die auf Lyotards Ethik des Widerstreits aufbaut -- lassen sich viele Eigenschaften der Kollaboration und der Machtdispositive im Netz als ethisch fundierte diskursive Transformationsprozesse interpretieren. Aus dieser Perspektive realisiert sich Bildung in solchen Prozessen, die die grundlegenden Regeln und Normen von online Communities transformieren (vgl. Marotzki, Koller), bzw. die diffuse, sozio-technische Arrangements verändern (vgl. Lyotard, Wunderlich). Es lässt sich zeigen, dass solche Transformationen immer wieder skeptisch gegenüber totalitären Diskursen sind und paralogisch (die Logik des Gegebenen überschreitend) nach neuen Ausdrucksformen suchen, und also den Kriterien von Lyotards Ethik entsprechen. Allerdings zeigt sich auch, dass diese Transformationen sehr seltene Ausnahmephänomene sind, die zwar grundsätzlich ermöglicht werden, aber in konkreten Situationen möglichst vermieden werden. Es stellt sich also die Frage, ob Lyotards Ethik des Widerstreits als kategoriale Forderung den neuen Praktiken im Netz gegenüber angemessen ist. (3) Indem ich nun die Ergebnisse beider Interpretationen zusammenführe, kann ich drei idealtypische Formen von Bildungspraktiken von Communities beschreiben, die ich als "Herumrouten", "Hineinziehen" und "Herausdehnen" bezeichne. Es handelt sich hierbei um Prozesse, bei denen das Arrangement der Community heteronomen Strukturen und Diskursen ausweicht, sie aufnimmt und unterläuft oder sich so weit aus ihnen herauslöst, dass die Community anders mit ihnen umgehen kann. Diese verteilten, kollaborativen Transformationsprozesse haben unter Anderem eine topologische Komponente; sie lassen sich unmöglich als Transformationen von Individuen konzipieren. Sie sind bildungsrelevant im Sinne der Kritische Bildungstheorie, weil sie gleichzeitig ökonomische Interessen bedienen und diese unterlaufen, und ebenso im Sinne der postmodernen Perspektive, weil sie neue Formen und Umgangsweisen jenseits von totalitären Arrangements eröffnen. Weil diese Communities große, offene und lose vernetzte Arrangements ausbilden, sind ihre Transformationsprozesse durch einzelne Akteure kaum zu kontrollieren. Es handelt sich hierbei um wirklich kollaborative Bildungsprozesse, deren 'Subjekt' (also dasjenige, das den Prozess vollzieht) die Community als Arrangement ist. Der einzelne menschliche wie nicht-menschliche Akteur kann sich in diese Prozesse einbringen, indem er sich an die Community ankoppelt, dort Positionen einnimmt, die das Arrangement ihm anbietet und darin Spielräume ausnutzt, die es eröffnet.

Typ des Eintrags: Dissertation
Erschienen: 2011
Autor(en): Koenig, Christoph Jan
Art des Eintrags: Erstveröffentlichung
Titel: Bildung im Netz: Analyse und bildungstheoretische Interpretation der neuen kollaborativen Praktiken in offenen Online-Communities
Sprache: Deutsch
Referenten: Sesink, Prof. Dr. Werner ; Meyer, Prof. Dr. Torsten ; Steinmetz, Prof. Dr. Ralf
Publikationsjahr: 1 August 2011
Ort: Darmstadt
Datum der mündlichen Prüfung: 16 Juli 2010
URL / URN: urn:nbn:de:tuda-tuprints-26419
Kurzbeschreibung (Abstract):

Grundannahme meiner Arbeit ist, dass im Netz neue Phänomene entstanden sind, die fundamentale Prämissen traditioneller Bildungstheorie in Frage stellen. Zu diesen Phänomenen gehören das Web 2.0, Freie und Open Source Software Projekte, Open Content Projekte, Peer-to-Peer Netzwerke, Wikis, die Blogosphäre und viele andere Online-Communities. Zunächst (1) analysiere ich diese Phänomene eingehend, um anschließend (2) aus der Perspektive zweier kontrastierender Bildungstheorien zu untersuchen, wie Bildung im Netz konzipiert werden kann, so dass sie den Eigenheiten dieser Phänomene gerecht wird. Daraus entwickle ich abschließend (3) eine Konzeption von Bildung durch kollaborative Transformationsprozesse sozio-technischer Arrangements und beschreibe drei idealtypische Formen solcher Bildungsprozesse. (1) In einem ersten Schritt führe ich eine qualitative Metaanalyse von empirischen Untersuchungen der neuen Praktiken im Netz durch, um daraus Modelle für deren typische Eigenschaften zu entwickeln. Diese Charakteristika sind: - eine Allmende-basierte Ökonomie, in der Kultur- und Informationsgüter durch Peer-Produktion hergestellt und distribuiert werden, - eine lose und redundante Vernetzung der Akteure zu offenen Online-Communities, die an den Rändern ausfransen, - Lernprozesse, die informell in der produktiven Praxis situiert sind und in denen Akteure durch die Partizipation an der Praxis in eine Community hineinwachsen, - Kommunikations- und Produktionsprozesse, die durch Schnittstellen und Protokolle modularisiert sind, so dass diese Prozesse sehr gut skalieren und sich Akteure aus den unterschiedlichsten Motiven und mit verschieden starkem Engagement in die Communities einbringen können, - Formen der Konfliktlösung, die nicht auf Konsens und Synthese zielen, sondern auf die Anerkennung von Differenzen, und die in Diskursen stattfinden, die zum Teil anarchisch sind und zum Teil durch Technologie bestimmt werden, - Das sogenannte "Recht zu forken" (sich von einer Community zu trennen und ein Derivat von deren Arbeit weiterentwickeln zu dürfen), das durch Freie und Open Source Software Lizenzen und durch die Creative Commons Lizenzen garantiert wird. (2a) Aus der Perspektive der Kritischen Bildungstheorie lassen sich viele dieser Eigenschaften als qualitative Umbrüche in der Produktionsform des globalen Kapitalismus interpretieren. Aus dieser Perspektive besteht Bildung im mündigen Umgang mit diesen Umbrüchen (Koneffke, Sesink); besonders damit, dass sich diese Umbrüche gleichzeitig in die kapitalistische Produktionsform integrieren und diese unterlaufen. Allerdings legt diese Perspektive einen Schwerpunkt auf das Subjekt. Dieser Fokus ist gegenüber den vernetzten Akteuren, die sich im Netz einbringen, nicht angemessen. Im Netz realisiert sich Mündigkeit nicht im Subjekt oder durch individuelle Prozesse, sondern durch kollektive Prozesse von vernetzten Akteuren. Es stellt sich aber die Frage, wie man solch eine kollektive Mündigkeit konzipieren kann. (2b) Aus einer postmodernen Perspektive -- genauer auf der Basis einer Bildungstheorie, die auf Lyotards Ethik des Widerstreits aufbaut -- lassen sich viele Eigenschaften der Kollaboration und der Machtdispositive im Netz als ethisch fundierte diskursive Transformationsprozesse interpretieren. Aus dieser Perspektive realisiert sich Bildung in solchen Prozessen, die die grundlegenden Regeln und Normen von online Communities transformieren (vgl. Marotzki, Koller), bzw. die diffuse, sozio-technische Arrangements verändern (vgl. Lyotard, Wunderlich). Es lässt sich zeigen, dass solche Transformationen immer wieder skeptisch gegenüber totalitären Diskursen sind und paralogisch (die Logik des Gegebenen überschreitend) nach neuen Ausdrucksformen suchen, und also den Kriterien von Lyotards Ethik entsprechen. Allerdings zeigt sich auch, dass diese Transformationen sehr seltene Ausnahmephänomene sind, die zwar grundsätzlich ermöglicht werden, aber in konkreten Situationen möglichst vermieden werden. Es stellt sich also die Frage, ob Lyotards Ethik des Widerstreits als kategoriale Forderung den neuen Praktiken im Netz gegenüber angemessen ist. (3) Indem ich nun die Ergebnisse beider Interpretationen zusammenführe, kann ich drei idealtypische Formen von Bildungspraktiken von Communities beschreiben, die ich als "Herumrouten", "Hineinziehen" und "Herausdehnen" bezeichne. Es handelt sich hierbei um Prozesse, bei denen das Arrangement der Community heteronomen Strukturen und Diskursen ausweicht, sie aufnimmt und unterläuft oder sich so weit aus ihnen herauslöst, dass die Community anders mit ihnen umgehen kann. Diese verteilten, kollaborativen Transformationsprozesse haben unter Anderem eine topologische Komponente; sie lassen sich unmöglich als Transformationen von Individuen konzipieren. Sie sind bildungsrelevant im Sinne der Kritische Bildungstheorie, weil sie gleichzeitig ökonomische Interessen bedienen und diese unterlaufen, und ebenso im Sinne der postmodernen Perspektive, weil sie neue Formen und Umgangsweisen jenseits von totalitären Arrangements eröffnen. Weil diese Communities große, offene und lose vernetzte Arrangements ausbilden, sind ihre Transformationsprozesse durch einzelne Akteure kaum zu kontrollieren. Es handelt sich hierbei um wirklich kollaborative Bildungsprozesse, deren 'Subjekt' (also dasjenige, das den Prozess vollzieht) die Community als Arrangement ist. Der einzelne menschliche wie nicht-menschliche Akteur kann sich in diese Prozesse einbringen, indem er sich an die Community ankoppelt, dort Positionen einnimmt, die das Arrangement ihm anbietet und darin Spielräume ausnutzt, die es eröffnet.

Alternatives oder übersetztes Abstract:
Alternatives AbstractSprache

New practices which have emerged on the net (like the Web 2.0, Wikis, the Blogosphere, Free and Open Source Software, Open Content, Peer-to-Peer networks and various online communities) challenge conventional premises of educational philosophy. Stemming from a German tradition of educational philosophy (Bildungstheorie) I investigate how different theories of Bildung relate to these phenomena. I first analyze existing empirical research on the emergent phenomena on the net in detail and derive a couple of characteristics which include: - Commons-based networked information production of cultural and information goods, some of which are treated as a commodity and others as a commons. - Loosely connected online communities of practice with ill-defined boundaries. - Situated learning which takes place through participation in the practice of these communities. - Modularization of communication and production which allows many actors with different motivations and different degrees of commitment to engage in these communities. - Discourse which lacks democratic means of control and which is sometimes both anarchic and controlled by technology. - The Right to Fork (that is to split from the community and to build a derivate work from their work) which is granted by Free and Open Source Software licenses and Creative Commons licenses. From the perspective of Critical Theory the commons-based information production emerging on the net can be interpreted as substantial changes in the current modes of production and distribution. The networked economic practices seem to enable much more people to have an active, participating and critical role within the worldwide information economy. These practices simultaneously subvert capitalistic economic models and integrate into the models which they overcome. This fits perfectly into a Critical Theory philosophy of education as brought forward by Heydorn, Konnefke and Sesink. However, the inner workings of these practices do not. People are entangled into them as actors in the network who are neither able to gain full insight of the changes that they impel, nor do they have the autonomy of a ``subject'' which is crucial to Critical Theory. On the other hand discourse-oriented perspectives are much more apt to model these inner workings. The postmodern philosophy of Jean-François Lyotard can serve as a conceptual bridge which helps to understand discursive practices on the net as articulating dissent and to map this to educational philosophy (Koller). Discourse in online communities is often quite dogmatic, but flame wars, forks, hacking, modding and mash-ups can be interpreted as transformations in discourse which ``give the differend its due'' and thus comply with Lyotard's postmodern ethics. However, after such transformations the dissenting parties remain interconnected. Therefore the net leads neither to Bildung of the autonomous subject as maintained by Critical Theory nor to a postmodern plurality of disconnected discourses. It rather enables networked, collaborative processes which accomplish some of the ethical principles common to educational philosophy. An educational philosophy for the net would therefore have to assume that critical action happens within networked spheres which have impact on the world and which (a) each have their own rules but remain interconnected and have no clearly defined boundaries, (b) are open to whom it concerns and enable participation by integrating connected actors via situated learning, (c) offer ways to innovate, dispute and to break with the rules. Drawing together all strands of my analysis I describe three stereotypic transformations of these spheres that would be considered Bildung according to such an educational philosophy. These transformations are collaborative processes by which communities route around means of control, intregrate and subvert profit-oriented networks and disentangle themselves just enough to enable alternative practices. All these processes are fundamentally collaborative: They transform the topological structure of the networks, the rules and protocols, the positions of actors and their common practice. The ``critical subject'' of these processes would therefore not be the single individual but rather the community itself.

Englisch
Freie Schlagworte: Bildungstheorie, Medienpädagogik, Neue Medien, Internet, Online Communities, Freie und Open Source Software (FOSS), Open Content, Copyleft, Flame War, Fork
Schlagworte:
Einzelne SchlagworteSprache
educational philosophy, digital media, internet, online communities, free/open source software (FOSS), open content, copyleft, flame war, forkingEnglisch
Sachgruppe der Dewey Dezimalklassifikatin (DDC): 300 Sozialwissenschaften > 370 Erziehung, Schul- und Bildungswesen
Fachbereich(e)/-gebiet(e): 03 Fachbereich Humanwissenschaften
03 Fachbereich Humanwissenschaften > Institut für Allgemeine Pädagogik und Berufspädagogik > Allgemeine Pädagogik mit dem Schwerpunkt Bildung und Technik
03 Fachbereich Humanwissenschaften > Institut für Allgemeine Pädagogik und Berufspädagogik
Hinterlegungsdatum: 02 Aug 2011 16:13
Letzte Änderung: 05 Mär 2013 09:51
PPN:
Referenten: Sesink, Prof. Dr. Werner ; Meyer, Prof. Dr. Torsten ; Steinmetz, Prof. Dr. Ralf
Datum der mündlichen Prüfung / Verteidigung / mdl. Prüfung: 16 Juli 2010
Schlagworte:
Einzelne SchlagworteSprache
educational philosophy, digital media, internet, online communities, free/open source software (FOSS), open content, copyleft, flame war, forkingEnglisch
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