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Paradigmenwechsel (Editorial)

Boltze, Manfred (2017)
Paradigmenwechsel (Editorial).
In: Straßenverkehrstechnik, 61 (5)
Artikel, Bibliographie

Kurzbeschreibung (Abstract)

Liebe Leserinnen und Leser, die Gestaltung der Lichtsignalsteuerung ist in Deutschland bisher stark von der grundsätzlichen Denkweise geprägt, dass Fußgänger und Radfahrer bevorrechtigt und Busse und Bahnen beschleunigt werden müssen. Diese Paradigmen haben in den letzten Jahrzehnten den Stadtverkehr und auch die Lichtsignalsteuerung erheblich geprägt. Der wesentliche Antrieb dafür liegt in der Absicht, die Verkehrsmittelwahl zu beeinflussen und damit die Nachhaltigkeit des Verkehrssystems zu verbessern. Dieses Ziel ist grundsätzlich richtig, aber die Lichtsignalsteuerung ist dafür aus heutiger Sicht ein schlecht geeignetes Instrument. Die undifferenzierte Bevorrechtigung von Fußgängern, Radfahrern und öffentlichen Verkehrsmitteln an Lichtsignalanlagen oder gar die gezielte Verschlechterung des Verkehrsablaufs für den motorisierten Verkehr führt nämlich nicht nur zu Staus und Zeitverlusten für Autofahrer, sondern auch zu Emissionen und erhebliche n Gesundheitsgefährdungen für Anwohner und alle Verkehrsteilnehmer. Das verzweifelte Bemühen zahlreicher Städte um Luftreinhaltung macht deutlich, dass sich etwas ändern muss. Dies hat zwei Konsequenzen: Erstens sollten zur Beeinflussung der Verkehrsmittelwahl nur Maßnahmen ohne negative Umweltwirkungen gewählt werden, also z.B. Instrumente des Mobilitätsmanagements oder ordnungsrechtliche und finanzielle Instrumente, wie Parkraummanagement und Maut. Zweitens brauch t es einen viel differenzierteren Ansatz zur Bewertung der Lichtsignalsteuerung als bisher üblich. Es ist ja im Prinzip unstrittig, dass bei der Gestaltung der Lichtsignalsteuerung die verschiedenen Wirkungen auf die unterschiedlichen Verkehrsteilnehmergruppen umfassen d berücksichtigt werden sollen. Aber w er wägt tatsächlich nach allen Kriterien ab, wie sich z.B. eine ÖV - Beschleunigung insgesamt auswirkt, also auch auf die Wartezeiten anderer Verkehrsteilnehmer, den Kraftstoffverbrauch und die Gesamtemissionen? Die vielfältigen Wirkungen der Lichtsignalsteuerung sind durchaus schwer zu überblicken. Entscheidungen aus dem Bauch heraus oder nach einfachen Regeln führen dann doch in vielen Fällen zu Ergebnissen, die weder optimal noch ausgewogen sind. Dafür gibt es in der Praxis viele Beispiele: ÖV - Beschleunigungen, die nahezu leeren Bussen und Bahnen freie Fahrt verschaffen, obwohl sie auch sonst gut im Fahrplan lägen. Oder Freigabezeitanforderungen, mit denen einzelne Fußgänger die Koordinierung unterbrechen, dutzende Fahrzeuge zum Stehen bringen, und dann den Emissionen beim Anfahren ausgesetzt sind. Für eine umfassende Bewertung von Lichtsignalsteuerungen sind in der Praxis zwei wesentliche Voraussetzungen zu erfüllen. Erstens müssen die Wirkungen mit vertretbarem Aufwand ermittelt werden können. Mit mikroskopischen Simulationsmodellen und integrierten Emissionsmodulen ist es heute bereits möglich, neben personenbezogenen Wartezeiten für alle Verkehrsteilnehmer auch den Kraftstoffverbrauch und die Emissionen an Kohlendioxid, Feinstaub und Stickstoffoxid recht genau abzuschätzen. Deutlich schwieriger ist das bisher mit den Wirkungen auf die Verkehrssicherheit. Zwar liegen Kenntnisse zu groben Einflüssen vor (z.B. mit und ohne gesicherte Führung der Linksabbieger). Aber die Sicherheitswirkungen z.B. einer u m einige Sekunden verlängerten Fußgängersperrzeit sind sehr situationsabhängig und kaum abzuschätzen. Die indirekten Wirkungen der Lichtsignalsteuerung über eine mittel - bis langfristig veränderte Verkehrsmittelwahl sind auch wichtig , aber diese Effekte sollten wie oben erwähnt durch andere Maßnahmen mehr als ausgeglichen werden. Zweitens braucht es eine klare Orientierung bezüglich des Werte s unterschiedlicher Kriterien und Kenngrößen. Wie bewerten wir zum Beispiel die Wartezeit eines Fußgängers im Vergleich zu der eines PKW - Insassen, ÖV - Fahrgast s oder Radfahrers? Wieviel zusätzlichen Kraftstoffverbrauch und Emissionen nehmen wir in Kauf, um einen Bus zu beschleunigen? Eine Möglichkeit besteht darin, dafür auf etablierte Kostensätze, z.B. aus der Bundesverkehrswegeplanung, zurückzugreifen. Erste Beispielrechnungen für typische Lichtsignalanlagen zeigen, dass in einer Spitzenstunde die personenbezogenen Wartezeitkosten je nach Situation und Typ der Lichtsignalanlage bei ein bis zwei Drittel der volkswirtschaftlichen Gesamtkosten liegen. Die Aufteilung auf die Verkehrsteilnehmergruppen hängt natürlich von der jeweiligen Personenanzahl ab. In vielen Fällen, gerade in Spitzenstunden, haben auch im Stadtverkehr Fußgänger und Radfahrer an Lichtsignalanlagen nur einen Anteil von bis zu 10 %. Maßnahmen zu ihrer Bevorrechtigung führen deshalb leicht zu einer ungünstigen Gesamtbewertung. Kraftstoff - und Umweltkosten machen je nach Situation ebenfalls ein bis zwei Drittel der Gesamtkosten aus und sind damit auf keinen Fall zu vernachlässigen. Für die Unfallkosten haben sich für die Beispiele Anteile von 5 bis 10 % ergeben. Die Gesamtbilanz konnte auch genutzt werden, um verschiedene Varianten der Steuerung zu bewerten. I n einem Beispiel waren die volkswirtschaftlichen Gesamtkosten bei eine r in die Koordinierung eingepasste n Fußgängerfreigabe um 40 % geringer als bei der heutigen Steuerung mit willkürliche r Freigabe unmittelbar nach Anforderung. In einem anderen Fall bestätigte sich aber auch, dass ÖV - Beschleunigungen bei guter Auslastung von Bussen und Bahnen über aus sinnvoll sind. Als Fazit ist eine Abkehr von den Paradigmen der unbedingten Priorisierung von Fußgängern, Radfahrern und öffentlichen Verkehrsmitteln zu fordern. Genau so wenig dürfen wir nun aber die Verkehrsverflüssigung zum alleinigen Ziel erklären. Stattdessen sollte es das neue Paradigma sein, die Wirkungen der Lichtsignalsteuerung umfassend zu berücksichtigen und fair gegeneinander abzuwägen. Nur so kann ein Ausgleich von Zielkonflikten, wie er in unseren Richtlinien gefordert wird, nachvollziehbar und angemessen durchgeführt werden. Dabei wollen wir immer noch Maßnahmen zur Förderung von Fußverkehr, Radverkehr und ÖPNV umsetzen. Aber eben nur dann und dort, wo das insgesamt sinnvoll ist. Eine Gestaltung der Lichtsignalsteuerung, die nicht nur ein einzelnes Ziel verfolgt, sondern alle Wirkungen berücksichtigt, wird von allein zu einer Priorisierung der stadt- und umweltverträgliche re n Verkehrsmittel führen. Der Paradigmenwechsel ist praktisch machbar. Die nötigen Instrumente stehen zur Verfügung, und der Aufwand lohnt sich. Ihr Manfred Boltze

Typ des Eintrags: Artikel
Erschienen: 2017
Autor(en): Boltze, Manfred
Art des Eintrags: Bibliographie
Titel: Paradigmenwechsel (Editorial)
Sprache: Deutsch
Publikationsjahr: Mai 2017
Titel der Zeitschrift, Zeitung oder Schriftenreihe: Straßenverkehrstechnik
Jahrgang/Volume einer Zeitschrift: 61
(Heft-)Nummer: 5
URL / URN: http://www.verkehr.tu-darmstadt.de/media/verkehr/fgvv/prof_b...
Kurzbeschreibung (Abstract):

Liebe Leserinnen und Leser, die Gestaltung der Lichtsignalsteuerung ist in Deutschland bisher stark von der grundsätzlichen Denkweise geprägt, dass Fußgänger und Radfahrer bevorrechtigt und Busse und Bahnen beschleunigt werden müssen. Diese Paradigmen haben in den letzten Jahrzehnten den Stadtverkehr und auch die Lichtsignalsteuerung erheblich geprägt. Der wesentliche Antrieb dafür liegt in der Absicht, die Verkehrsmittelwahl zu beeinflussen und damit die Nachhaltigkeit des Verkehrssystems zu verbessern. Dieses Ziel ist grundsätzlich richtig, aber die Lichtsignalsteuerung ist dafür aus heutiger Sicht ein schlecht geeignetes Instrument. Die undifferenzierte Bevorrechtigung von Fußgängern, Radfahrern und öffentlichen Verkehrsmitteln an Lichtsignalanlagen oder gar die gezielte Verschlechterung des Verkehrsablaufs für den motorisierten Verkehr führt nämlich nicht nur zu Staus und Zeitverlusten für Autofahrer, sondern auch zu Emissionen und erhebliche n Gesundheitsgefährdungen für Anwohner und alle Verkehrsteilnehmer. Das verzweifelte Bemühen zahlreicher Städte um Luftreinhaltung macht deutlich, dass sich etwas ändern muss. Dies hat zwei Konsequenzen: Erstens sollten zur Beeinflussung der Verkehrsmittelwahl nur Maßnahmen ohne negative Umweltwirkungen gewählt werden, also z.B. Instrumente des Mobilitätsmanagements oder ordnungsrechtliche und finanzielle Instrumente, wie Parkraummanagement und Maut. Zweitens brauch t es einen viel differenzierteren Ansatz zur Bewertung der Lichtsignalsteuerung als bisher üblich. Es ist ja im Prinzip unstrittig, dass bei der Gestaltung der Lichtsignalsteuerung die verschiedenen Wirkungen auf die unterschiedlichen Verkehrsteilnehmergruppen umfassen d berücksichtigt werden sollen. Aber w er wägt tatsächlich nach allen Kriterien ab, wie sich z.B. eine ÖV - Beschleunigung insgesamt auswirkt, also auch auf die Wartezeiten anderer Verkehrsteilnehmer, den Kraftstoffverbrauch und die Gesamtemissionen? Die vielfältigen Wirkungen der Lichtsignalsteuerung sind durchaus schwer zu überblicken. Entscheidungen aus dem Bauch heraus oder nach einfachen Regeln führen dann doch in vielen Fällen zu Ergebnissen, die weder optimal noch ausgewogen sind. Dafür gibt es in der Praxis viele Beispiele: ÖV - Beschleunigungen, die nahezu leeren Bussen und Bahnen freie Fahrt verschaffen, obwohl sie auch sonst gut im Fahrplan lägen. Oder Freigabezeitanforderungen, mit denen einzelne Fußgänger die Koordinierung unterbrechen, dutzende Fahrzeuge zum Stehen bringen, und dann den Emissionen beim Anfahren ausgesetzt sind. Für eine umfassende Bewertung von Lichtsignalsteuerungen sind in der Praxis zwei wesentliche Voraussetzungen zu erfüllen. Erstens müssen die Wirkungen mit vertretbarem Aufwand ermittelt werden können. Mit mikroskopischen Simulationsmodellen und integrierten Emissionsmodulen ist es heute bereits möglich, neben personenbezogenen Wartezeiten für alle Verkehrsteilnehmer auch den Kraftstoffverbrauch und die Emissionen an Kohlendioxid, Feinstaub und Stickstoffoxid recht genau abzuschätzen. Deutlich schwieriger ist das bisher mit den Wirkungen auf die Verkehrssicherheit. Zwar liegen Kenntnisse zu groben Einflüssen vor (z.B. mit und ohne gesicherte Führung der Linksabbieger). Aber die Sicherheitswirkungen z.B. einer u m einige Sekunden verlängerten Fußgängersperrzeit sind sehr situationsabhängig und kaum abzuschätzen. Die indirekten Wirkungen der Lichtsignalsteuerung über eine mittel - bis langfristig veränderte Verkehrsmittelwahl sind auch wichtig , aber diese Effekte sollten wie oben erwähnt durch andere Maßnahmen mehr als ausgeglichen werden. Zweitens braucht es eine klare Orientierung bezüglich des Werte s unterschiedlicher Kriterien und Kenngrößen. Wie bewerten wir zum Beispiel die Wartezeit eines Fußgängers im Vergleich zu der eines PKW - Insassen, ÖV - Fahrgast s oder Radfahrers? Wieviel zusätzlichen Kraftstoffverbrauch und Emissionen nehmen wir in Kauf, um einen Bus zu beschleunigen? Eine Möglichkeit besteht darin, dafür auf etablierte Kostensätze, z.B. aus der Bundesverkehrswegeplanung, zurückzugreifen. Erste Beispielrechnungen für typische Lichtsignalanlagen zeigen, dass in einer Spitzenstunde die personenbezogenen Wartezeitkosten je nach Situation und Typ der Lichtsignalanlage bei ein bis zwei Drittel der volkswirtschaftlichen Gesamtkosten liegen. Die Aufteilung auf die Verkehrsteilnehmergruppen hängt natürlich von der jeweiligen Personenanzahl ab. In vielen Fällen, gerade in Spitzenstunden, haben auch im Stadtverkehr Fußgänger und Radfahrer an Lichtsignalanlagen nur einen Anteil von bis zu 10 %. Maßnahmen zu ihrer Bevorrechtigung führen deshalb leicht zu einer ungünstigen Gesamtbewertung. Kraftstoff - und Umweltkosten machen je nach Situation ebenfalls ein bis zwei Drittel der Gesamtkosten aus und sind damit auf keinen Fall zu vernachlässigen. Für die Unfallkosten haben sich für die Beispiele Anteile von 5 bis 10 % ergeben. Die Gesamtbilanz konnte auch genutzt werden, um verschiedene Varianten der Steuerung zu bewerten. I n einem Beispiel waren die volkswirtschaftlichen Gesamtkosten bei eine r in die Koordinierung eingepasste n Fußgängerfreigabe um 40 % geringer als bei der heutigen Steuerung mit willkürliche r Freigabe unmittelbar nach Anforderung. In einem anderen Fall bestätigte sich aber auch, dass ÖV - Beschleunigungen bei guter Auslastung von Bussen und Bahnen über aus sinnvoll sind. Als Fazit ist eine Abkehr von den Paradigmen der unbedingten Priorisierung von Fußgängern, Radfahrern und öffentlichen Verkehrsmitteln zu fordern. Genau so wenig dürfen wir nun aber die Verkehrsverflüssigung zum alleinigen Ziel erklären. Stattdessen sollte es das neue Paradigma sein, die Wirkungen der Lichtsignalsteuerung umfassend zu berücksichtigen und fair gegeneinander abzuwägen. Nur so kann ein Ausgleich von Zielkonflikten, wie er in unseren Richtlinien gefordert wird, nachvollziehbar und angemessen durchgeführt werden. Dabei wollen wir immer noch Maßnahmen zur Förderung von Fußverkehr, Radverkehr und ÖPNV umsetzen. Aber eben nur dann und dort, wo das insgesamt sinnvoll ist. Eine Gestaltung der Lichtsignalsteuerung, die nicht nur ein einzelnes Ziel verfolgt, sondern alle Wirkungen berücksichtigt, wird von allein zu einer Priorisierung der stadt- und umweltverträgliche re n Verkehrsmittel führen. Der Paradigmenwechsel ist praktisch machbar. Die nötigen Instrumente stehen zur Verfügung, und der Aufwand lohnt sich. Ihr Manfred Boltze

Fachbereich(e)/-gebiet(e): 13 Fachbereich Bau- und Umweltingenieurwissenschaften > Verbund Institute für Verkehr
13 Fachbereich Bau- und Umweltingenieurwissenschaften > Verbund Institute für Verkehr > Institut für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik
13 Fachbereich Bau- und Umweltingenieurwissenschaften
Hinterlegungsdatum: 21 Jan 2018 18:39
Letzte Änderung: 21 Feb 2018 17:06
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